Mit Fotofeed und virtuellen Kerzen: Diese Gründer wollen die Sterbebranche digitalisieren

Florian Heide26.7.2022

Über 50.000 Menschen haben bereits Gedenkseiten für Verstorbene auf der Plattform Unvergessen.de erstellt

Gründerteam Unvergessen.de
Das Unvergessen.de Gründerteam: Max Jakob, Henrik Bergmann, Felix Wenzel, Philip-Pelgen. Foto: Max Jakob

Auf Unvergessen.de können Trauernde Gedenkseiten für ihre Verstorbenen erstellen. Damit wollen vier Unternehmer aus dem Saarland das Thema Tod und Trauern ins digitale Zeitalter hieven. OMR haben die Startup-Gründer erklärt, wie sie das anstellen wollen und weshalb sie hoffen, den Tod damit zu enttabuisieren.

Mit dem Tod kommt Philip Pelgen zum ersten Mal als Teenager in Berührung. Nämlich immer dann, wenn er seiner Mutter, einer Blumenladenbesitzerin aus Hüttigweiler, 25 Minuten von Saarbrücken entfernt, hilft, die Särge Verstorbener zu verzieren. Als Pelgen nach dem BWL-Studium einen Job im Marketing sucht, stößt er auf eine Anzeige: Ein von der Kommune Saarbrücken betriebenes Krematorium sucht Unterstützung im Bereich Kommunikation und Marketing.

In Deutschland gibt es rund 160 Krematorien, sie sind der Ort, in dem Leichen verbrannt werden, Einäscherung nennt sich der Vorgang. Pelgen findet Gefallen an dem Gedanken, ausgerechnet für ein Krematorium zu arbeiten. Er nimmt den Job an und sitzt fortan im Verwaltungsgebäude der Vereinigten Feuerbestattung in Saarbrücken, rund fünf Autominuten vom großen Krematorium entfernt.

Das Geschäft mit der Feuerverbrennung ist ein B2B-Business

Pelgen ist zuständig für PR, Marketing und Kommunikation. Er kümmert sich um die Erneuerung der Webseite, sein Hauptjob besteht aber darin, die Bestatter von sich zu überzeugen. Die beauftragen die Krematorien nämlich mit der Verbrennung eines Verstorbenen, oder anders gesagt: Die Bestatter entscheiden über die Auftragslage der Krematorien. Leichen verbrennen ist ein B2B-Business.

Aus diesem Grund verschickt Pelgen per Post regelmäßig Broschüren an die umliegenden Bestatter, etwa wenn es neue Öfen gibt, er veranstaltet Tage der offenen Tür und organisiert jährlich einen sogenannten „Bestattertag“, wo rund 200 umliegende Bestattungsinstitutmitarbeiter eingeladen sind, es wird gegrillt, Musiker und Feuerspucker treten auf. Und immer wieder stellt Pelgen fest: Von einer allseits um sich greifenden Digitalisierung ist in der traditionellen Sterbebranche nichts zu spüren.

Der Unvergessen-Vorläufer entpuppt sich als Flop

Als 2019 Pelgens Schwiegermutter an Krebs erkrankt, erklärt sie ihm kurz zuvor, wie sehr sie darunter leide, ihre Enkelkinder nicht kennenlernen zu dürfen. „Mir wurde in dem Moment klar: Außer einem Foto und den Erinnerungen bleibt nichts, das meinen Kindern helfen wird zu verstehen, wer ihre Oma wirklich war“, sagt er. Also gründet er zusammen mit zwei Informatikern Eternio, eine Plattform, wo Hinterbliebene für ihre Verstorbenen online Gedenkseiten erstellen können.

Doch der Start verläuft holprig. „Wir haben viele Fehler gemacht“, sagt Pelgen. Die User Experience sei zu kompliziert gewesen, die Farbwelt hob sich zu wenig von der von Bestattern ab. Außerdem hakte das Geschäftsmodell: In der Gratis-Version können Hinterbliebee nur wenige Funktionen nutzen, wie etwa Trauertexte zu verfassen. Für weitere, wie etwa eine digitale Fotowand oder selbstgeschriebene Erinnerungen, müssen sie eine kostenpflichtige Version kaufen. „Die Leute haben die Premium-Version erst gar nicht ausprobiert“, sagt Pelgen.

„Trauer wird immer noch tabuisiert“

Als Felix Wenzel von Pelgens Plattform erfährt, versteht er schnell, welches Potenzial die Idee für ihn hat. Wenzel ist Unternehmer, Social Media Experte und betreibt 2020 auf Facebook eine erfolgreiche Trauer-Seite namens „Unvergessen“. Mehr als 200.000 Nutzer:innen gefällt die, die gleichnamige Gruppe hat rund 10.000 Mitglieder. Wenzel hält den Grundstein in den Händen, und als er Pelgen kurz darauf kontaktiert, weiß der den Ausbau voranzutreiben. Gemeinsam wollen sie auch außerhalb von Facebook einen Ort schaffen, wo Trauernde zusammenkommen und ihrem Verlust Ausdruck verleihen können. Der Relaunch der Plattform Eternio folgt unter dem Namen „Unvergessen.de“ an Heiligabend 2020.

„Trauer“, sagt Wenzel, „wird in unserer Gesellschaft tabuisiert. Viele wissen nicht angemessen mit einer hinterbliebenen Person umzugehen. Solche Berührungsängste können dazu führen, dass sich Hinterbliebene noch mehr alleine gelassen fühlen“, sagt er. In der digitalen Welt hingegen fände sich immer jemand, der Verständnis für einen hat. „Bei der Trauerbewältigung hilft es vor allem, sich mit Leuten auszutauschen, die denselben Verlust erfahren haben“, sagt er. Das soll auch weiterhin das Konzept auf Facebook sein.

Digitale Kerzen, Kondolenzen und Spenden

Die Plattform Unvergessen.de geht allerdings einen Schritt weiter: Sie will traditionelle Handlungen wie Traueranzeigen, Kondolenzbekundungen und selbst das Grabkerzenanzünden digitalisieren. All das können Besucher:innen einer Gedenkseite von Unvergessen.de tun, sogar Geld an die Hinterbliebenen zu spenden ist möglich. „Eine normale Traueranzeige etwa ist nur einen Tag in der Zeitung zu sehen und kostet zwischen 200 und 2.000 Euro“, sagt Pelgen.

Auf Unvergessen.de eine Gedenkseite für einen verstorbenen Menschen zu erstellen, kostet nichts und bleibt, theoretisch zumindest, für immer bestehen. Besucher:innen können Fotos des oder der Verstorbenen hinzufügen, ihre Erinnerungen an sie in kurzen Worten niederschreiben und veröffentlichen, eine virtuelle Kerze anzünden oder der Familie eine private Nachricht zukommen lassen.

Nach einem Monat, erklärt Pelgen, werden Gedenkseiten automatisch in einen inaktiven Modus versetzt, dann können keine Erinnerungen oder Fotos mehr hinzugefügt werden. Es sei denn, die Ersteller:innen entscheiden sich dafür einen monatlichen Betrag zu bezahlen, dann seien Veränderungen weiterhin möglich. Zwar empfehle man zwischen drei und 29 Euro dafür zu bezahlen, aber der Betrag sei letztlich frei wählbar. „Wenn jemand nur einen Euro bezahlen will, kann er das tun.“ Die Möglichkeit, Trauer ausdrücken zu dürfen, soll nicht vom Einkommen abhängig sein. Laut eigener Aussage gibt es mittlerweile 50.000 Nutzer:innen, die bereits Gedenkseiten erstellt haben. Seit der Gründung habe das Unternehmen einen hohen fünfstelligen Betrag umgesetzt.

Die trauernde Masse benutzt Facebook

Das durchschnittliche Sterbealter liegt in Deutschland zwischen 80 und 84 Jahren. Die meisten Trauernden sind demnach statistisch zwischen 50 und 60 Jahren – und viele von ihnen sind auf Facebook unterwegs. Die Unvergessen-Trauergruppe auf Facebook ist mittlerweile auf rund 18.000 Mitglieder angewachsen, die Facebook-Seite hat fast 300.000 Gefällt-mir-Angaben.

Unvergessen Bärchen

Das „Unvergessen“-Bärchen wird aus den alten Klamotten Verstorbener genäht und auf der Plattform für 99 Euro vertrieben. Screenshot: Florian Heide

Dort bieten Pelgen und sein Team auch physische Produkte, wie etwa einen kleinen Teddybären für 99 Euro, genäht aus den Klamotten des oder der Verstorbenen. Die Geschichten dahinter, die sie in Absprache mit den Hinterbliebenen auf Facebook veröffentlichen, kommen gut an: Fast jeder Post der Art wird mit tausenden Likes und Kommentaren versehen. Neue Erinnerungsprodukte seien bereits in Planung, darunter etwa Schmuck aus der Asche der Verstorbenen und in Glas gravierte Fotos.

Vom Startup zur Bestatter-Agentur

Ungefähr 80 Prozent der Leads zu Unvergessen.de kämen von Facebook, die restlichen 20 Prozent durch SEO. Nützlich dabei: Hinterbliebene suchen oft direkt nach dem Namen des oder der Verstorbenen. Und landen dadurch häufig schnell bei Unvergessen.de. Entsprechend gering sei das Ad-Budget: Einen dreistelligen Betrag geben sie laut eigenen Angaben monatlich dafür aus.

Künftig will das Team hinter Unvergessen.de auch beratend aktiv sein: Eine eigene Marketing-Agentur soll Bestattern dabei helfen, ihre Social Media Aktivitäten ins digitale Zeitalter zu hieven. „Die Trauer beginnt beim Bestatter“, sagt Pelgen. Und die Trauer in den öffentlichen Raum zu bringen, das würde dazu beitragen, endlich „selbstverständlich, offen und ohne Angst über den Tod reden zu können.“

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Florian Heide
Autor*In
Florian Heide

Florian arbeitet seit fast zehn Jahren als Print-Journalist. Angefangen beim Lokalblatt, später als Praktikant und Freelancer für DIE ZEIT und GEO. Seit 2020 ist er Redakteur bei OMR, wo er über Startups, Viraltrends, den Wandel von Social Media Plattformen und neue Technologien berichtet. Er hat nie Bargeld dabei und verbringt die Wochenenden am liebsten weit weg von Technologie in der Natur.

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