Erste Beobachtungen zu Reels: Wird Instagram damit Tiktok das Wasser abgraben können?

Welche Vor- und Nachteile Instagram im Kampf um die Social-Video-Vorherrschaft hat

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Wer sich auch nur ein bisschen für Social Media und Digital Marketing interessiert, an dem/der wird es nicht vorüber gegangen sein: Es gibt in Deutschland und Frankreich auf Instagrams Plattform ein neues Feature. Reels sind Facebooks Antwort auf die in den letzten Monaten rasant gestiegene Popularität der Social-Video-App Tiktok. Wird es Facebook damit gelingen, Tiktoks Wachstum einzudämmen? Dazu eine erste persönliche Einschätzung.

Vorab jedoch für alle diejenigen von Euch, die um die bisherige Berichterstattung über das Format einen Bogen gemacht haben, kurz zusammengefasst die wichtigsten Infos: Reels sind Kurzvideos, die bis zu 15 Sekunden lang sind und mit Musik unterlegt werden können. Sie können im Story-Kamera-Modus produziert werden. Dort gibt es am Fuße des Bildschirms nun den Reiter Reels. Das Format war bislang nur in Brasilien verfügbar (unten das Demo-Video zum Launch im November 2019); gestern wurde der Test auf Deutschland und Frankreich ausgeweitet (es ist meines Wissens nach das erste Mal, das Instagram ein so zentrales Feature früh im deutschen Markt testet).

Reels sind an vier Stellen in Instagram eingebunden

Auf veröffentlichte Reels können die Nutzer innerhalb von Instagram an mehreren Stellen stoßen: Zum einen gibt es auf den Nutzerprofilen (ähnlich wie bei IGTV) einen gesonderten Reiter, unter dem alle Reels eines Nutzers gesammelt abrufbar sind. Zudem ist es auch möglich, eine Vorschau des jeweiligen Kurzvideos in einer Instagram Story oder im normalen zu Feed posten. Darüber hinaus sind nun auch am Kopf der Explore-Seite, auf der Instagrams Suchfunktion eingebettet ist, Reels eingebunden von Nutzern, denen man nicht folgt.

So sieht Reels in der Story-Kamera aus (links). Die Nutzer können Musikstücke auswählen, die Aufnahme mit Effekten belegen oder die Wiedergabegeschwindigkeit ändern. Rechts ein veröffentlichtes Reel von Influencerin Carmen Kroll alias „carmushka“.

Nachdem ich einen Abend lang damit verbracht habe, mir Reels und deren Integration in Instagram genauer anzuschauen, will ich meine ersten Beobachtungen und Eindrücke mit Euch teilen. Zunächst einmal: Es ist frappant, wie hemmungslos Instagram mit dem neuen Format Tiktok kopiert. Das Instagram-Management scheint sich überhaupt keine Mühe geben zu wollen, irgendwelche Innovationen oder Alleinstellungsmerkmale auch nur vortäuschen zu wollen.

Eine unverhohlene Kopie

Reels haben dasselbe Grund-Feature-Set wie Tiktok-Videos – wenn auch die Bearbeitungsmöglichkeiten bei Instagram vielleicht noch nicht ganz so umfassend sein mögen wie beim aus China stammenden Konkurrenten. Dieser Eindruck setzt sich fort bei den Influencern und dem Content, den diese in den vergangenen Wochen zum Reels-Start vorbereitet haben. Als ich mich das erste Mal durch den Reels-Feed gewischt habe, wurden mir zu einem großen Teil dieselben Songs, dieselben Memes und dieselben Challenges wie auf Tiktok ausgespielt.

Reels sind an verschiedenen Stellen innerhalb von Instagram eingebunden: mit einem gesonderten Reiter (links), auf der Explore-Page (Mitte) und als Preview in Stories

Kann Instagram mit solch einer unverhohlenen Kopie erfolgreich sein – möglicherweise sogar Tiktok den Schneid abkaufen? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, lohnt es sich, in die Vergangenheit zu schauen. Denn es ist ja nicht das erste Mal, dass Instagram ein zentrales Feature eines Mitbewerbers kopiert – und damit sehr erfolgreich ist. Im August 2016 hat Instagram Stories eingeführt, eine quasi Eins-zu-eins-Kopie von Snapchat Stories. Die Nutzerzahl von Instagram Stories hat die von Snapchat in enormer Geschwindigkeit überholt; auch die mit Stories erwirtschafteten Werbeumsätze sind mit einem Tempo gestiegen, wie es bisher auf keiner anderen Digitalplattform der Fall war.

Infographic: Instagram Stories Blows Past Snapchat | Statista

Kann Instagram den Snap-Stunt wiederholen?

An dieser Stelle ein ganz wichtiges „Aber“: Bevor Reels in Deutschland gestartet ist, hätte ich gedacht, dass Tiktok bereits zu groß ist, als dass Instagram ein ähnlicher Stunt auch mit Tiktok gelingt. Nun, nachdem ich mir die Integration von Reels in Instagram angesehen und mir ein wenig Gedanken gemacht habe, möchte ich diese Einschätzung nicht unbedingt revidieren. Aber ich bin mir ihrer zumindest nicht mehr ganz so sicher.

Einer der entscheidenden Gründe dafür, dass Instagram mit dem Stories-Format erfolgreicher war als Snap selbst, dürfte gewesen sein, dass Instagram im Vergleich zu Snap freigiebiger mit der Reichweite war. Bei Snap waren die „Discovery“-Möglichkeiten von Nutzern und deren Stories, mit denen man nicht persönlich verbunden war, (zumindest meiner Erinnerung nach) am Anfang nach sehr beschränkt, vermutlich weil Gründer Evan Spiegel die „Value Proposition“ der Plattform – ein privater, sicherer Messenger – nicht verwässern wollte. Virale Effekte auf Snap waren deswegen am ehesten noch über Word-of-Mouth möglich – etwa wie bei der legendären Jet-Ski-Story von DJ Khaled.

Warum Instagram Stories so erfolgreich waren

Instagram ist demgegenüber eine Plattform, die schon früh viel stärker auf Reichweite ausgelegt war. Zudem waren und sind die Stories auf Instagram für die Nutzer die Möglichkeit, direkt oberhalb des Feeds ausgespielt zu werden. Damit stellten und stellen Stories für Influencer auch eine attraktive Möglichkeit dar, organische Reichweite auf Instagram zurückzugewinnen, die im regulären Feed durch den Algorithmus zuletzt ja immer stärker beschränkt worden war.

Das Ergebnis: Mit Instagram Stories lassen sich leichter hohe Reichweiten erzielen als mit der Snap-Version. Deswegen sind Instagram Stories von den Influencern, deren Geschäft Reichweiten sind und die gleichzeitig mit ihrem Content Nutzer an die Plattform binden, mit offenen Armen aufgenommen worden und Instagram Stories liefen denen von Snap den Rang ab.

Blüht Tiktok nun dasselbe Schicksal?

Was sagt dieser Vergleich nun über die Chancen von Reels aus? Auf Tiktok können Nutzer bereits jetzt enorme Reichweiten erzielen: Abrufzahlen im sieben- und achtstelligen Bereich sind absolut keine Seltenheit.

Aber es gibt eine Sache, in der sich Tiktok und Instagram vermutlich am deutlichsten voneinander unterscheiden. Instagram spielt (abgesehen von der Explore-Seite) den Nutzern Inhalte anderer Nutzer aus, denen diese folgen. Bei Tiktok werden den Nutzern demgegenüber Videos auf Basis des Nutzerverhaltens ausgespielt – man muss dafür niemandem folgen.

Sind Follower auf Tiktok weniger wert als auf Instagram?

Eine Following-Funktion gibt es zwar auch auf Tiktok. Der Großteil des Content-Konsums findet allerdings über die Für-Dich-Seite statt, auf der die Nutzer direkt landen, wenn sie die App öffnen, und in der die viralsten Videos (ein wenig personalisiert auf Basis des Nutzungsverhaltens) ausgespielt werden. Wer die Videos der Tiktok-Accounts sehen will, denen er/sie folgt, muss auf den „Folge ich“-Reiter tippen. Bei auf Tiktok erfolgreichen Influencern kommen deswegen bis zu 80 Prozent der Views von der „Für Dich“-Seite.

Viele Influencer messen deswegen offenbar Followern auf Tiktok weniger wert bei als denen auf Instagram. Auf Tiktok müssen sich die Nutzer jene Reichweite, die im wirklich relevanten Bereich liegt, immer wieder neu verdienen. Ein wenig überspitzt ausgedrückt: Auf Tiktok fängt man mit jedem Video wieder von vorne an.

Auf Instagram lässt sich verlässlicher Reichweite generieren

Das dürfte auch der Grund dafür sein, dass manche Tiktokker immer wieder versuchen, ihre Tiktok-Zuschauer in Instagram-Follower zu konvertieren. Sie posten dafür Prank- oder andere Videos, die die Neugier der Zuschauer reizen, versehen mit dem „Call to Action“: „Die Auflösung/das Ergebnis findet ihr auf meinem Instagram-Account.“

Mein Eindruck ist: Wenn man sich auf Instagram eine gute, engagierte Community aufgebaut hat, diese mit Content bespielt, der sie interessiert und mit dem sie interagieren, mit Formaten und Features, die Instagram gerade pushen will (zuletzt dürften das Stories, AR-Filter und IGTV gewesen sein), ist es trotz des Einbruchs der durchschnittlichen organischen Reichweite immer noch möglich, auf Instagram verlässlich hohe Reichweiten zu erzielen.

Und genau das könnte der Faktor sein, der Reels für die reichweitenstarken Creator attraktiver macht als „Tiktoks“.

„Der heilige Gral“ als Köder

Hinzu kommt, dass Instagram die Influencer darüber hinaus mit einer extrem attraktiven Platzierung dazu bringen will, Reels zu produzieren. Denn seit gestern ist das neue Format überaus prominent ganz oben und großformatig auf Instagrams Explore-Seite eingebunden. Auf die Explore-Seite zu gelangen, war für Influencer und die Betreiber von Viral-Accounts auf Instagram zuletzt so etwas wie der „heilige Gral“ – denn es war und ist immer noch eine der besten Möglichkeiten, neue Follower zu gewinnen und damit die vermarktbare Reichweite zu vergrößern. Erste Erfahrungen von Nutzern, die mit ihrem Reel auf der Explore-Seite prominent gefeatured wurden, zeigen, dass in einem Fall die View-Zahlen ähnlich explodieren können wie mit einer Platzierung auf der „Für Dich“-Seite bei Youtube.

Zu einem ähnlichen Schluss wie ich ist auch Carmen Kroll, alias „carmushka“, gekommen, wie in einem gerade von ihr auf LinkedIn veröffentlichten Artikel nachzulesen ist: „Im Content gleich, in der Viralität noch nicht vergleichbar mit Tiktok, aber deutlich kalkulierbarer“, schreibt Kroll dort über Reels. Die Influencerin glaubt: Den Kampf zwischen Tiktok und Instagram würden dieses Mal nicht die Creator entscheiden, sondern vor allem die Brands. „Dort, wo am Ende die lukrativeren Kampagnen umgesetzt werden, werden sich die Top-Creator langfristig aufhalten. Und hier sehe ich Instagram deutlich vorn.“ Wobei Kroll auf Instagram „groß“ geworden ist und dort aktuell 963.000 Abonnenten verzeichnet. Auf Tiktok sind es 46.600.

Braucht Tiktok die Instagram Influencer?

Was spricht nun im Kampf um die erfolgreichste Kurzvideo-Plattform demgegenüber für Tiktok? Zum einen vermutlich, dass die Nutzeroberfläche und „User Experience“ der Plattform komplett auf Kurzvideos zugeschnitten sind. Die Nutzer öffnen die App und müssen nichts weiter tun; sie finden sofort den für sie relevanten Content. Als ich es mir aus beruflichem Interesse eine Zeit lang zur Gewohnheit gemacht habe, jeden Abend noch einmal in Tiktok reinzuschauen, ist es mir nicht selten passiert, dass auf einmal eine Stunde oder mehr vorüber gegangen war.

Zudem sind auf Tiktok neue Influencer entstanden: Herr Anwalt oder Younes Zarou mit seinen Tutorial-Videos beispielsweise. Zwar haben die meisten der erfolgreichen Tiktok-Influencer auch einen Instagram-Account. In den vergangenen Wochen war es aber eher so, dass viele der „großen“ Instagram-Influencer einen Tiktok-Account eingerichtet haben: Caro Daur, Pamela Reif, Stefanie Giesinger – sogar Lisa und Lena sind nach rund einem Jahr Abwesenheit wieder auf Tiktok zurückgekehrt.

Steuert Tiktok nun gegen?

Die kommenden Wochen werden zeigen, ob Instagram diesen Trend mit Reels zumindest ein wenig abbremsen kann. Möglicherweise findet Tiktok ja einen Weg, Follower für die Nutzer wieder wertvoller zu machen, der die User Experience aber nicht verschlechtert.

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Roland Eisenbrand
Autor*In
Roland Eisenbrand

Roland ist seit mehr als zehn Jahren als Journalist in der Digitalbranche aktiv. Seit 2014 verantwortet er als Head of Content (und zweiter Mitarbeiter) alle inhaltlichen Komponenten von OMR, darunter vor allem den OMR Blog und redaktionelle Arbeit rund um das OMR Festival.

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